Im Folgenden findet ihr einen Aufsatz, den Marius und Katharina für die Aufsatzsammlung zum Mittelpunkt 2016 geschrieben haben und der sich mit dem Sinn und Nutzen von Partizipation im Live-Rollenspiel beschäftigt. Erschienen ist der Artikel in der Aufsatzsammlung „LARP und die (anderen) Künste“ im Zauberfeder-Verlag. Die komplette Aufsatzsammlung findet ihr hier: http://www.zauberfeder-verlag.de/
Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen und freuen uns auch über Rückmeldungen.
Mittendrin statt nur dabei
Oder: Warum mehr Partizipation im Larp wichtig ist
von Katharina Munz und Dr. Marius Munz
Partizipation ist ein Begriff, den man im Allgemeinen eher aus anderen Kontexten als dem des Live-Rollenspiels kennt. Aber egal in welchen Bereich man dabei schaut – sei es die Soziologie, die Pädagogik, die Politik oder auch die Kunst – immer geht es um die Beteiligung und Teilhabe an der Gestaltung von Prozessen, Strukturen und/oder Inhalten.
Partizipation bedeutet, Individuen und Organisationen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse (Prozesse zur Bildung zum Beispiel politischer Einstellungen) einzubeziehen. Sie stärkt das soziale Vertrauen und kann zum Aufbau des sogenannten sozialen Kapitals beitragen. Der Begriff „Soziales Kapital“ wurde unter anderem von Robert D. Putnam geprägt. Es lässt sich stark vereinfacht beschreiben als das Gemeinschaftsempfinden von Bürgerinnen und Bürgern und deren Bereitschaft, sich in einer und für eine Gesellschaft zu engagieren.
Partizipation wird in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verwendet, um bei den Zielgruppen eine höhere Identifikation mit einem Prozess zu erreichen und somit die „Compliance“ zu erhöhen, sich beispielsweise eher an selbst gestaltete Regeln zu halten, als wenn diese nur „von Oben“ vorgeschrieben worden wären.
Aber was hat das alles nun eigentlich mit dem Thema Live-Rollenspiel zu tun?
Um diese Frage zu beantworten braucht es einen kleinen Exkurs in die gefühlte Realität vieler Live-Rollenspieler.
Was ist die Problemlage?
Es ist zu beobachten, dass mit zunehmendem Alter der Live-Rollenspieler die Ansprüche an ein Larp extrem zu steigen scheinen und sich immer mehr das entwickelt, was sich gut mit dem Begriff „Konsumentenhaltung“ umschreiben lässt.
Auf den ersten Blick ist das ja auch nicht ganz unverständlich: Man arbeitet vierzig Stunden in der Woche, hat ggf. auch noch eine Familie, die versorgt und umsorgt werden will und im Gegensatz zum früheren Larpen in Schul- oder Studentenzeiten fehlt es inzwischen zwar nicht mehr am nötigen Kleingeld, um sich Zelt, Ausrüstung und den Con-Beitrag zu leisten. Woran es allerdings meist fehlt, ist Zeit. Und dann kommt natürlich gegebenenfalls die Vorstellung auf, dass es dann, wenn man schon ein ganzes Wochenende der spärlichen Freizeit opfert, auch etwas ganz Besonderes sein muss. Etwas, in das man vollends eintauchen, in dem man sich (im besten Sinne des Wortes) verlieren und den Stress seiner vergangenen (Arbeits-)Woche vergessen kann – und für das man im besten Fall fast gar nichts zu tun braucht, außer auf der Veranstaltung anwesend zu sein.
Zusätzlich zu diesem Anspruch haben die meisten Larper auch nicht mit Mitte Dreißig angefangen zu larpen, sondern eher in ihrer Jugend – einer Zeit, in der vieles noch viel beeindruckender war, als mit Mitte Dreißig und in der man noch bereiter und offener dafür war, sich von Dingen und Situationen „verzaubern“ zu lassen. Das gilt für Partys, Konzerte, Silvesterfeiern und vieles mehr. Und auch Larp stellt da keine Ausnahme dar.
Aus diesem Konglomerat an Rahmenbedingungen kann sich dann leicht eine Konsumenten-Rolle ergeben. Mit all ihren Nachteilen. Denn Larp-Konsument zu sein bedeutet, dass man das konsumiert bzw. das konsumieren muss, was die Spielleitung einem vorsetzt. Das passt nicht immer zum eigenen Konzept oder der eigenen Einstellung zu Larp. Oder der eigene Charakter hat – aus welchen Gründen auch immer – keine Möglichkeit, am Hauptplot zu partizipieren. Dies ist nicht immer vollständig befriedigend (auch für die Spielleitung nicht) und für viele Spielerinnen und Spieler manchmal sogar ein Grund, das Hobby Live-Rollenspiel vielleicht ganz an den Nagel zu hängen.
Was kann man also tun bzw. welche Mechanismen liegen diesem Problem zugrunde?
Ein psychologisches Bedürfnis, das den Menschen seit jeher antreibt, und das erstmals 1970 vom Psychologen Albert Bandura erforscht wurde, ist das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit oder nach Selbstwirksamkeitserwartung. Dieses Konzept besagt, dass ich als Mensch das Gefühl brauche, mit meinen Fähigkeiten etwas bewirken und meine Umwelt – zumindest in einem gewissen Rahmen – meinen Vorstellungen anzupassen und sie beeinflussen zu können. Daraus erwächst für mich ein Gefühl der Kontrolle, der Sicherheit und Bewältigbarkeit des eigenen Lebens und des eigenen Umfeldes.
Dem entgegen steht die Überzeugung, vollständig den äußeren Umständen, anderen Personen oder auch dem Zufall oder Glück ausgeliefert zu sein und nichts dagegen tun zu können. Diese fehlende Selbstwirksamkeitserwartung kann unter anderem zu einer erhöhten Anfälligkeit für psychische Krankheiten wie Angststörungen und Depressionen führen.
Der „gesunde“ Mensch bewegt sich im Allgemeinen dynamisch im oberen Mittelfeld zwischen dem Pol der absoluten Kontrolle und dem Pol der absoluten Hilflosigkeit. Normalerweise, ohne dabei tatsächlich in eines dieser beiden Extreme zu verfallen. Um dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten ist es allerdings erforderlich, tatsächlich selbst wirksam zu sein, um sich als selbstwirksam zu erleben. Das bedeutet, selbst etwas zu tun, zu erschaffen, zu beeinflussen, aktiv zu sein. Im Prinzip also das genaue Gegenteil der oben beschriebenen Konsumentenhaltung, in der ich nichts erschaffe, sondern nur äußere Impulse auf mich einwirken lasse.
Befinde ich mich also nur in der passiven Konsumentenhaltung, wird es sehr schwer, mich als selbstwirksam zu empfinden. Dies gilt für so ziemlich jeden Lebensbereich – und auch hier stellt Larp wieder keine Ausnahme dar.
Auch der Volkswirt Nico Paech, der sich viel mit dem Thema der Nachhaltigkeitsforschung beschäftigt und dabei seinen Fokus auf ökologische Ökonomie gelegt hat, stellte in seinen Forschungen fest, dass reiner Konsum den Menschen nicht glücklich macht.
Häufig finden wir aber im Live-Rollenspiel genau das vor. Zum einen von Seiten der Teilnehmer, die mit ihrer verständlichen, aber doch verheerenden Konsumentenhaltung auf eine Veranstaltung kommen. Zum anderen aber auch von Seiten der Spielleitung, die den Spielerinnen und Spielern häufig nur wenig Chance einräumt, sich aktiv an der Gestaltung des Spielgeschehens zu beteiligen und dabei wirklich etwas zu bewirken, sich also als selbst wirksam zu erleben. Oder zumindest nicht über die klassische Situation des Endrituals für die Magier und der Verteidigung eben dieses Endrituals für die Krieger hinaus. Oft ist der Spieler dazu „verdammt“, Szenen mit anzuschauen, die von NSCs gespielt werden, ohne jedoch wirklich eingreifen zu können. Dieses Stilmittel der Orga, dem Spieler Informationen zukommen zu lassen, scheint auf den ersten Blick effektiv zu sein, um den Plot voranzutreiben oder den Plot den Spielern bekannt zu machen. Leider führt diese Methode jedoch häufig zu Frustration auf Seiten des Spielers, der in die Rolle des passiven Zuschauers gedrängt wird, ohne wirklich etwas bewirken zu können. Da kann bei dem einen oder anderen Spieler über die Jahre hinweg schon eine gewisse Ermüdung, um nicht zu sagen „Larp-Depression“, einsetzen.
Für viele Larper scheint dieser „Larp-Depression“ ein anderer Begriff entgegen zu stehen und das Allheilmittel für alle im Larp auftauchenden Probleme zu sein: Die Immersion. Ein Begriff, der besonders in den letzten Jahren immer häufiger im Zusammenhang mit dem Thema Larp und vor allem mit dem subjektiven Empfinden von Qualität im Larp Erwähnung findet. Unter Immersion wird im Larp im Allgemeinen das vollständige Eintauchen in die Spielwelt verstanden. Dies ist sicherlich ein erstrebenswertes Ziel und verdichtet das Larp-Erleben ungemein. Doch wird der Begriff „Immersion“ hauptsächlich in Bezug auf Ausstattung, Gewandung und das „Ambiente“ benutzt. Plastikflaschen, Kunststoffzelte, Hochspannungsmasten störten die Immersion, so äußern sich viele Larper. Sie fordern von Mitspielern und Spielleitungen, auf alle Out-Time Gegenstände zu verzichten und bestehen darauf, dass auf gar keinen Fall „Telling“ verwendet werden darf. Alles, so das Postulat, muss „echt“ sein oder zumindest echt aussehen.
Dieser Ansatz könnte jedoch in Bezug auf die von Spielern gewünschte Immersion zu kurz gegriffen sein. Denn Immersion bedeutet im besten Sinne auch, sich auf etwas einzulassen, von etwas – einer Szene, einer Situation, einem Kontakt mit einem anderen Menschen – ergriffen zu sein und sich davon berühren zu lassen. Und gegebenenfalls auch sich mit etwas identifizieren zu können. Diese Identifikation, dieses sich Einlassen, entsteht vor allem dann, wenn ein Mensch beziehungsweise ein Spieler das Gefühl hat, aktiv an einer Aktion beteiligt zu sein und die Chance zu haben, das Spiel zu SEINEM Spiel, das Larp zu SEINEM Larp zu machen.
Und hier kommt nun das Thema der Partizipation ins Spiel – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn folgt man der oben dargelegten Argumentation, dann kann Partizipation einen großen Beitrag dazu leisten, im Spiel Immersionserleben zu generieren. Partizipation ermöglicht es dem Spieler mit der Spielwelt tatsächlich zu interagieren. Man spricht mit anderen Spielern und NSCs, man kann Dinge berühren, sie verändern, sie zerstören, etwas lesen oder schreiben, klettern, sich durch Spinnweben kämpfen und zaubern. Hat der Spieler jedoch nur die Möglichkeit zuzuschauen oder eine NSC-Welle nach der nächsten zu bekämpfen, wird es kein oder nur ein sehr eingeschränktes Immersionserleben geben. Besteht für ihn aber die Chance an der Spielwelt und am Spielgeschehen aktiv teilzunehmen, sich mit seinem Charakter, seiner Persönlichkeit, seinen Ideen und seinem Erleben einzubringen, schafft allein dies schon einen beträchtlichen Teil der so viel gelobten Immersion. Denn etwas zu erschaffen ist um so vieles befriedigender, als bloß etwas zu konsumieren – eine Beobachtung, der Bandura sicherlich zugestimmt hätte.
Was folgt also daraus?
Es gilt als Spielleitung den Spielern Möglichkeiten der Partizipation zu eröffnen und ihnen die Chance zu bieten, sich aktiv einzubringen und den Spielprozess aktiv mitzugestalten. Vielleicht geht es auch darum, Konzepte zu entwickeln oder anzuwenden, die den Spieler wieder in die Verantwortung für sein eigenes Erleben bringen. Dies bedeutet nicht, dass die Spielleitung nicht die Aufgabe hat, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie den Spielern ein tolles Spiel ermöglichen kann. Aber bei Partizipation geht es eben auch um die Abgabe beziehungsweise das Teilen von Verantwortung damit der damit Betraute die Gelegenheit hat sich selbst in der „Pflicht“ zu sehen, gestalterisch aktiv zu werden und sich auf diesem Weg mit dem Ergebnis zu identifizieren.
Dies bedeutet aber auch Folgendes: Um partizipatorische Spielkonzepte zu verwirklichen, benötigt die Spielleitung eventuell mehr Out-Time-Equipment, teilweise „Telling“ und andere unterstützende Maßnahmen – entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass dies einen absoluten Spielleitungs-Faux-Pas darstellt. Unsere persönliche Erfahrung in diesem Bereich zeigt jedoch, dass sich diese scheinbar „immersionsstörenden“ Elemente leicht verschmerzen lassen, wenn die Spieler tatsächlich aktiv in die Spielgestaltung eingebunden werden und am Spiel partizipieren können.
Hierzu ein Beispiel aus der Praxis: Auf unserem letzten Con haben wir als Spielelement ein Niedrigseil eingebaut. Ein Niedrigseil ist ein in Kniehöhe gespanntes Stahlseil, auf dem man einzeln oder als Gruppe balancieren und auf dem man Übungen machen kann. Faktisch ein Hightech-Klettergerät, das auf jeden Fall als OT-Gegenstand zu erkennen war. Bei der Benutzung des Seils standen jeweils neben dem Seil viele OT-NSCs als Sicherungshelfer. Die Spanngurte des Niedrigseils sind neon-gelb und die SL stand auch in OT-Kleidung neben dem Gerät. Das wäre eigentlich für das Immersionserleben des Otto-Normal-Larpers eine Katastrophe. Jedoch wurde in den Feedbackbögen der knapp fünfzig Spieler nicht ein einziges Mal bemängelt, dass sie das offensichtliche Outtime-Gerät aus ihrem Immersionserleben gerissen oder auch nur irgendwie gestört hätte. Und das, so zumindest unserer Beobachtung nach, aus einem ganz einfachen Grund: Weil die Spieler viel zu sehr damit beschäftigt waren die mit dem Seil verbundene und in den Plot eingebundene Aufgabe zu erledigen und alle gemeinsam am Erfolg dieser Aktion gearbeitet haben. Somit haben sie selbst ihre Immersion geschaffen, sind trotz scheinbarer Störfaktoren in ein Erlebnis eingetaucht. Der Spaß, den diese Übung gemacht hat, trug sicherlich auch dazu bei, dass es eher weniger wichtig war, ob die Spannseile mit Sackleinen mittelalterlich abgetarnt waren oder nicht. Spielspaß, Erleben und Eintauchen in eine fantastische Welt waren in diesem Fall plötzlich leichter als gedacht und wurden nicht durch Ambiente störende Gegenstände behindert. Die Lösung einer Aufgabe, an der die Spieler aktiv teilhaben konnten, produzierte eine enorme Befriedigung und das Gefühl, wirklich etwas getan zu haben, wirklich durch seine eigenen Fähigkeiten selbst wirksam gewesen zu sein, ganz im Sinne Banduras.
Spieler-Partizipation bietet uns als Spielleitungen also die Chance, wegzukommen von immer gleichen Larp-Abläufen, die sich im Kern auf das Zuschauen einer Standard-Geschichte beschränken, die den Magiern und Priestern das Reden und Zaubern überlässt und bei der die Krieger nur zum Kämpfen auf der Veranstaltung sind. Diese Art des passiven Konsumenten-Larps bietet keine ausreichenden Spielmöglichkeiten, keine Immersion und keine Erlebnisse, die man gerne – auch Wochen später noch – weiter erzählt. Das Ziel eines jeden Larps sollte also für die Spielleitung sein, Erlebnisse zu produzieren. Ein guter Weg dies zu erreichen ist es, die Spieler in die Spielgestaltung mit einzubeziehen und sie nicht wie Statisten am Rande eines vorhersehbaren Standardplots zuschauen zu lassen. Die Frage, die sich also jede Spielleitung bei der Entwicklung ihres Plots stellen sollte, ist: Was können die Spieler wirklich tun? Sieht die geplante Szene nur ähnlich einem Theaterstück auf der Bühne gut aus oder können die Spieler wirklich daran teilhaben? Welches Erlebnis schaffen wir als Spielleitung für die Spieler, das sie berührt, sie dazu bringt, sich mit dem Spiel zu identifizieren und das Spiel zu ihrem zu machen?
Stellen wir uns diese Fragen in der Planung haben wir als Spielleitungen die Möglichkeit, Spielern ein befriedigendes Erlebnis zu ermöglichen, von dem sie gegebenenfalls noch lange berichten und an das sie sich mit großer Zufriedenheit zurückerinnern werden.
Und nebenbei bemerkt: Partizipation hat noch einen weiteren positiven Nebeneffekt, insbesondere für Spielleitungen. Durch Partizipation wird der Spieler vom Konsumenten zum Macher, zum Gestalter, zum Mit-Verantwortlichen für sein eigenes Erleben und nimmt somit ein großes Stück der Verantwortung für den „Spaß“ auf einem Larp von den Schultern der Spielleitung.